Uralte Verwandte beeinflussen Gesundheit heute

Mandatory Credit: Photo by De Agostini Picture Library/REX/Shutterstock (5165320a) Mummy of Thutmose IV. Detail. Egyptian civilisation, New Kingdom, Dynasty XVIII. Cairo, Egyptian Museum VARIOUS

Der diesjährige Nobelpreisträger in Medizin Prof. Dr. Svante Pääbo hat überzeugende Nachweise für die menschliche Evolutionsbiologie erbracht. Dem Paläogenetiker Pääbo vom Max-Plank-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzip gelang mit Hilfe der Molekulargenetik nicht nur die Aufklärung evolutionärer Verwandschaftsverhältnisse; er konnte damit zudem zeigen, dass dieses jahrtausende alte Erbe bis in die Neuzeit fortwirkt. Archaische Gensequenzen von längst ausgestorbenen Hominiden, wie den Neandertalern z.B., beeinflussen noch heute physiologische Prozesse und sind für heutige Erkrankungen von Bedeutung. Sie entscheiden z.B. mit, wie unser Immunsystem auf den COVID-19-Virus reagiert.

Nur ein Vierteljahrhundert liegt zwischen dem ersten Entdeckungshöhepunkt, Mumien-DNA sequenzieren zu können, und der Analyse von ausgestorbenen Hominiden und anderer Vorfahren. Problematik: deren Gensequenzen sind über die Zeit einerseits in kleine chemische Sequenzen zerfallen und andererseits mit Genfragmenten anderer Herkunft (z.B. Bakterien oder von heutigen menschlichen Zeitgenossen) kontaminiert und mussten isoliert aufgeschlüsselt werden. Diese Methodenverfeinerung nahm Jahre in Anspruch.
2010 markiert das Jahr der größten Durchbrüche. Seinerzeit gelang es zum einen, die längste Genomsequenz von Neandertalern zu veröffentlichen. Pääbo schätzte damals vorsichtig, es handele sich um 60 % des Neandertaler-Genoms. Ins gleichen Jahr fiel die Veröffentlichung über die Funde in der Denisova-Höhle in Sibirien. Dort wurde die gut erhaltene DNA aus Fingerknochen einer bisher unbekannten Hominiden-Familie entdeckt und damit zugleich überkommene evolutionäre Vorstellungen korrigiert: Während ein Teil der Experten die These favorisierte, der moderne Mensch habe sich von Afrika aus überall hin ausgebreitet, ging der andere davon aus, es habe unabhängig voneinander regional verschiedene Entwicklungsorte gegeben. Beides stimmt nicht, wie Pääbo darlegen konnte.

Der größte Genpool des modernen Menschen kommt tatsächlich aus Afrika, aber 1-3 % des Genoms aller Meschen au0erhalb der Subsahara stellen ein Neandertal-Erbe dar. Zusätzlich stammen 5 % des Genoms von der Denisova-Hominiden-Gruppe ab. Die Neandertaler speisten außerdem Genmaterial in die Denisova-Bevölkerung ein, die ihrerseits Input von einer noch unbekannten Hominiden-Familie erhielten, die sich vor mindestens 1 Million Jahre von der menschlichen Genlinie abspaltete. Zusammengefasst: „Fast alle sind mit allen verwandt.“
Im Abgleich von modernen Menschen verschiedener Kontinente lässt sich erkennen, dass sich die DNA-Sequenzen von Neandertalern und denen der heutigen Bevölkerung Europas und Asiens ähnlicher sind als derjenigen des afrikanischen Kontinents. Während der Homo sapiens zuerst von 300.000 Jahren in Afrika auftaucht, haben Neandertaler vor rund 400.000 Jahren vornehmlich Europa und den westlichen Teil Asiens besiedelt. Bis von 30.000 Jahren haben sie mit den modernen Menschen koexistiert, die vor rund 70.000 Jahren im mittleren Osten und danach in Europa auftauchten. Der Sex mit Neandertalern war dabei ziemlich einseitig, wie Pääbo aus Mitochondrien-DNA, die ausschließlich von Müttern vererbt wird, nachweisen konnte. Das Fehlen von m-DNA aus Neandertal-Herkunft lässt schlussfolgern, dass nur Neandertaler-Männer ihre Gene in den modernen Genpool einschleusten, sich also mit Frauen des Homo sapiens paarten.

Ein wesentlicher Treiber für den Einschluss von Neandertaler-Genen stellen RNA-Viren dar. Denn die Neandertal-Spuren im Genom des heutigen Menschen sind bevorzugt Segmente, die Proteine kodieren, die mit diesen Viren interagieren; z.B mit HIV- und Influenza-A-Viren besonders starke Reaktionen zeigen. Dabei ergeben sich einerseits stärkere Bedrohungen durch diese Viren, andererseits aber auch neue Gene, um der neuen Infektionen Herr zu werden.
Auch für COVID-19 konnten Pääbo und sein Kollege Zeberg zeigen, dass Wechselwirkungen vom Neandertaler-Erbe von vor 10 – 20.000 Jahren das Risiko schwerer Erkrankungen an COVID um 22 % verringern, aber eben auch, dass andere Gen-Cluster die Gefahr von Atemwegsversagen nach SARS-CoV-2-Infektion erhöhen. Auch für Pockenviren und den Erregern der Pest, die vor 7 – 10.000 Jahren auftraten, dürften solche Genvarianten eine Schutzwirkung entfaltet haben.

Quelle: Dr. med. Martina Lenzen-Schulte
Dt. Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 41, 14.10.2022, S. A1752-1754

Wie bewahrt man das Feuer in Langzeitbeziehungen?

Gerade in Zeiten des Lockdown und social distancing, wenn die Menschen in hohem Maße auf sich selbst zurückgeworfen sind, werden bei Paaren und in Familien Spannungen sichtbar.
Der Stress, ausgelöst durch die unberechenbare Bedrohung eines unsichtbaren Virus, das Gefühl von Kontrollverlust, die Bevormundung durch staatliche Stellen, die Sorge um liebe Verwandte und die bewusste wie unbewusste Reaktivierung von Kindheitsgefühlen, wie auch der Stress des engen aufeinander Hockens in der Wohnung, das nicht ausweichen können, lässt schnelle eine angespannte oder gar aggressive Stimmung entstehen – mit der konstruktiv oder destruktiv umgegangen werden kann.

Foto: Andreas Bohnenstengel, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59106427
Foto: Lindemann

Ja, manchmal sind Wegweiser – nicht nur in der “Mutter-Kind-Beziehung”, wie oben im Bild zur Wegführung an der Baustelle an der Sporthalle in Rodheim zu sehen –  sehr hilfreich,
insbesondere in Zeiten, die sich anfühlen wie Baustellen …
und Langzeitbeziehungen sind Dauerbaustellen …
allerdings meist ohne die beruhigenden Hinweisschilder, die einen „an der Hand nehmen“
oder – wie inzwischen auf den Autobahnen zu sehen -: „in 5 km, in 3 km, in 1 km Ende der Baustelle“.

Sollte die Überschrift Ihre Neugier geweckt haben,
stellen Sie sich auch beim Lesen dieses Textes auf eine längere Dauer ein.
Vielleicht aber lohnt es in besonderer Weise, einen Text oder eine fremde Person in vielerlei Facetten kennenzulernen und sich Zeit füreinander zu nehmen; nicht zu schnell aufzugeben, etwas miteinander durchzuarbeiten (wie die Psychoanalytiker gerne sagen).
Immerhin ist es einen Gedanken wert, zu entdecken, wieso man sich mit gerade diesem Partner gerade diese Aufgabe für sein Leben gesucht hat. Gerade im “einander erkennen” steckt viel mehr, als der erste Eindruck herzugeben vermag.

In vielerlei Formen von Beziehungen strebt man nach Dauer und Vertrautheit.
Oftmals haben Paare vor, die Strecke bis zum Ende zusammenzubleiben … und da soll das Ende nicht schon nach 5 km bzw. 5 Jahren erreicht werden.
Allerdings stellen sich weder Lust noch Frust von alleine ein …
realistisch gesehen, sagt die Scheidungsstatistik, dass die meisten Ehen nach 6 Jahren Ehedauer geschieden werden und die durchschnittliche Ehedauer bei 15 Jahren liegt. (Quelle: www.scheidung.de)

Zwar ist – positiv gesehen – Instabilität eine notwendige Bedingung für Bewegung und Entwicklung,
doch zugleich braucht es dabei eine hinreichende Stabilität, um sich auf das Abenteuer von Veränderung einzulassen. Andernfalls kann eine Konstruktion leicht in die Brüche gehen.
Es ist wie beim Treppensteigen: steht das Standbein stabil, lässt sich mit dem Spielbein eine neue Stufe erklimmen. Findet das Spielbein dort festen Halt, kann das Standbein zum Spielbein für eine weitere Entwicklung werden, usw. usw. – mit den eigenen Beinen.
Ähnlich: hat die Beziehung stabile, verlässliche Grenzen, gerät erkundende Spiel nicht so leicht in gefährliche Fahrwasser. Dennoch erscheint, wie es so schön heißt, “das Gras auf der anderen Seite grüner” – zumindest für eine anfängliche Weile.
Gelingt es, dieses Spannungsfeld in eine tragfähige Balance zu bringen, kann sich eine Beziehung dauerhaft entwickeln … auch wenn die Beteiligten nicht immer im gleichen Tempo unterwegs sind.

Nein, eine Paartherapie (als sinnvolle und intelligente Fortbildungsmaßnahme – die Paare sich häufig viel zu spät gönnen) soll nicht immer nur sicherstellen, dass die Leute zusammenbleiben.
Vielmehr geht es darum, dass Menschen verantwortungsvolle Entscheidungen treffen, dass neue Perspektiven ausgeleuchtet werden, die ein andres Verständnis in Zusammenhänge und Wechselwirkungen erlauben, die Wachstum ermöglichen und die, im Fall der Fälle, helfen, mögliche Schäden minimal zu halten.

Früher baute die Institution Ehe sehr lange auf “bis der Tod Euch scheidet”.
Heute währt die Ehe meist so lange, bis die Liebe stirbt.

Als die Leute früher “für immer” sagten, sind sie in ihren Vierzigern, Fünfzigern, Sechzigern gestorben.
Heute erleben viele die achtziger und neunziger Jahrgänge.
Zudem ist die ökonomische Abhängigkeit von Frauen meist nicht mehr gegeben, so dass sie sich nicht mehr mit allem arrangieren müssen. Sie erleben sich nicht mehr als Eigentum ihres Mannes und auch die Frage, woher die Kinder kommen, muss nicht mehr durch Einsperren der Frauen sichergestellt werden.
So werden heute die meisten Scheidungen von Frauen initiiert.

In einer Paartherapie schaut man immer danach, was dies und das bedeutet und wie es miteinander zusammenhängt, wie es in der Beziehung wechselwirkt und wohin das dann möglicherweise führt oder was es – zumindest in der Phantasie – für Auswirkungen hat.
Denn wenn die Beziehung nicht glücklich ist, bleibt die Familie heutzutage vermehrt nicht intakt.
Früher konnte das Paar unglaublich unglücklich sein, konnte es im Zusammenleben gewalttätig, missbräuchlich zugehen – das Paar hätte sich nicht getrennt … schon allein, weil die Familienorganisation das Paar brauchte und die gesellschaftlichen Hürden hoch waren.
Wir hatten ja mal Ehen, in der man viele Kinder brauchte, um das Feld zu bestellen, um die ökonomische Sicherheit für die Familie zu gewährleisten.
Dann hatten wir das Bild der romantischen Ehe, in der man Zugehörigkeit sucht, eine Verbindung. Und weil man Kinder nicht mehr zu Fortbestand und zum Arbeiten brauchte, hatte man nur wenige Kinder – und hatte Sex aus Lust und Leidenschaft.
Heute geht es in der Ehe, in Beziehungen allgemein, um Identität: “ich will, dass mir mein Partner dabei hilft, die beste Version meiner selbst zu werden.” Außerdem hat man sich heutzutage bereits “die Hörner abgestoßen” und verbindet sich etwa 10 Jahre später, als vor 50 Jahren. Man sucht – mitten in einer konsumorientierten Welt – einen Seelenverwandten, jemanden, mit dem man sich versteht, der die gleiche Sprache spricht, der das eigene Weltbild bestätigt. Denn in dieser Zeit sind Paar so isoliert, wie nie zuvor. Zudem gibt es – u.a. zwei Weltkriegen geschuldet – kaum Vorbilder, an denen man authentisches Verhalten und kooperatives Miteinander oder erfolgreiches, glückliches Zusammenleben lernen kann. Zu viele Menschen tragen unbewusst noch an Wunden (auch an denen der Vorgeneration), die sie in Verdrängung zu halten suchen und es gibt inzwischen zu viele “broken homes”, die idealistische Erwartungen sprießen lassen, die ebenfalls nur in die Wiederholung des Scheiterns führen.

Immerhin ist biologisch vorgegeben, dass man ein Verlangen nach jemand anderem entwickelt.
An der Ausgestaltung dieses Verlangens kann man moderne Beziehungen erkennen.
Über all in der Mediengesellschaft wird suggeriert, dass es bestimmt besseres gäbe, als das, was man gerade hat oder wo man gerade ist oder mit wem man gerade ist.
Überall auf der Welt ist es daher ähnlich mit der Untreue.

Allerdings geht man in anderen Teilen der Welt anders damit um, als z.B. in Europa.
Amerikaner z.B. moralisieren Untreue typischerweise. Sie erleben einen Seitensprung als moralischer Verrat an ehernen (religiösen) Werten.
In Europa zählt Untreue als der ultimative Betrug in und an der Beziehung oder Ehe. Denn sie besiegelte die Verbindung mit seinem Seelenverwandten, was – oft unbewusst – mit einem stillen Anspruch auf Alleinbesitz einhergeht und zudem das Gefühl, etwas besonderes zu sein. Durch die/den Dritten wird diese Illusion zerstört. Die Ent-Täuschung ist groß: das “Soll”, die Vorstellung, wurde vom “Ist”, von der Realität, eingeholt und auf die Füße gestellt.

Hatten früher viele Menschen in der Ehe den allerersten Sex und kannten unter dem Postulat der Monogamie auch nichts anderes, hatte man heute vor der Ehe meist schon Sex mit vielen anderen. Monogamie bedeutet heute also etwas anderes als früher: nämlich nach vielen anderen mit nur noch einem Partner zu schlafen.
Den kann man sich heute aussuchen: “Ich suche mir diese Person aus und kümmere mich nicht mehr um die anderen. Ich bin die/der Auserwählte, etwas ganz besonderes.”

Psychologisch gesehen spielen hier also – heutzutage in besonderer Weise – u.a. sehr frühe narzisstische Bedürfnisse nach Bestätigung, Besonderheit und das Erleben einer vermeintlichen Größe eine große Rolle – während man ja als Kleinkind real noch ganz klein ist und lediglich wenig von der Welt kennt. Da lassen sich phantastische Vorstellungen leicht mit der Realität verwechseln.
In einer Partnerschaft werden diese Bedürfnisse und Vorstellungen reaktiviert und “befriedigt”.
Zugleich aber überfordern diese Anforderungen auf Dauer das Gegenüber und rufen Fluchtimpulse oder Aggressionen hervor. Entsprechend tauchen Kinderängste auf, verlassen zu werden und damit lebensbedroht zu sein, die bei einem Erwachsenen irrational erscheinen.
Das erklärt jedoch, warum die Zerstörung dieser Illusion, ein so immenses katastrophisches Erleben hervorruft. In dieser Stresssituation werden ganz archaische Überlebensinstinkte aktiviert, so dass klares, vernunftbetontes Denken kaum möglich ist. Dies zumindest bei fehlendem Abstand und beruhigter Seele, die Perspektivenwechsel und Reflektion zulässt.
Zum anderen werden in einem Dreieck sofort alte Erinnerungen an das Erleben in der triangulären Beziehung mit den Eltern wach gerufen. Oft war da das Kind der ausgeschlossene Dritte; oder schlimmer noch: ein Elternteil wurde ausgegrenzt und Verhältnisse geschaffen, die eine für ein Kind überfordernde, aber Größenphantasien stärkende, die Generationengrenzen verwischende Situation erschufen.
Da hilft häufig ein weiteres Augenpaar, das andere Aspekte erkennen und benennen kann, das nicht parteiisch auf die Situation blickt oder moralische Werte über die Personen stellt, die hilft, das jeweilige Handeln im Kontext zu verstehen.

Es gibt immer einen Grund für unser Handeln – ob nun bewusst oder unbewusst.
Und unser Tun hat immer eine tiefe Bedeutung.
Affären sind Geschichten, One-Night-Stands sind Geschichten, sogar Hit-and-Run-Sex hat eine Bedeutung – in dem Fall die angebliche, dass sie bedeutungslos seien.
Es gibt keine menschliche Interaktion ohne Bedeutung!

Daher geht es in guten Paargesprächen oder in Paartherapien nicht so sehr um die Fakten: “wer hat was wann mit wem wie gemacht”, sondern um die Bedeutungsgebung, die der Handelnde dafür konstruiert.
Der/die Handelnde ist dabei sowohl “die/der Täter” als auch die/das “Opfer” seiner Sicht der Dinge.
Zudem sind es die Wechselwirkungen der Interaktionen und auch Umgebungsfaktoren spielen hier eine bedeutsame Rolle, die es zu bedenken gilt.

Ereignisse sind einfach Ereignisse / Fakten.
Ihre Bedeutung erlangen sie durch die Art unserer Einordnung in ein Bild, das wir selbst zeichnen, …
… indem wir bestimmte Aspekte wahrnehmen und andere nicht; durch die Art, wie wir etwas betonen, bewerten und durch die Worte, mit denen wir beschreiben, was für uns selbst (aber auch für unsere Umgebung) wichtig/bedeutsam ist und/oder auch als sinnvoll verstanden wird.

Um dahinter zu steigen, fragen wir uns:
“Was sagt uns dieses Erleben, Fühlen, Denken, Verhalten, ja auch diese Affäre, über die Person, diese Kultur, diesen Moment in diesem Leben und über den Entwicklungsstand in dieser Beziehung?”

Hier zeigt sich ein großer Vorteil von Langzeitbeziehungen, in denen die Beteiligten sich und die jeweilige eigene Geschichte und die des Partners gut kennen. Da muss dann nicht mehr alles persönlich genommen werden; da können Zuordnungen angeboten und Verwechslungen angesprochen werden, die aufklärend wirken. Solche Erkenntnisse sind zum Teil schmerzhaft, wie sie auch Nähe erzeugen, da man sich als Entlarvter eben peinlich berührt, aber auch gesehen, verstanden und wertgeschätzt fühlen kann.

Eine Beziehung, in der jemand eine Affäre hat, in der jemand geliebt werden möchte, kann kaputt sein – sie kann aber auch gerettet werden.
Interessanterweise ist Einsamkeit einer der häufigsten Antriebskräfte, sich anders zu orientieren.
Einige Seitensprünge, Bordellbesuche, Pornoseitenaufrufe finden ihre Bedeutung in der Unzufriedenheit mit der Beziehung: in Jahren von emotionaler Abweisung, gefühlter Abwertung, in differenten sexuellen Interessen, in Jahren von sexueller Dürre (z.B. wenn die Kinder klein sind), in jahrelangem gegenseitigen Ignorieren, in Jahren fehlender Kommunikation und Verbindung.
Es kann ein Schrei nach Hilfe, nach Beachtung und Weiterentwicklung sein.
Es kann aber auch eine Erkenntnis sein: Ich wusste gar nicht, dass das Leben anders sein kann, dass es einen Menschen gibt, der lieb zu mir ist, dass ich keinen Schmerz beim Sex haben muss, dass ich mich von jemandem begeht fühlen kann, dass es jemanden gibt, der zärtlich ist, großzügig und will, dass ich mich wohlfühle, dass es jemanden gibt, der mich nicht beständig kritisiert oder auch an mir selbst erkenne, dass ich den anderen für blöd hielt, weil er mich liebt, obwohl ich mich selbst für nicht liebenswert erachte.

Oft geht es gar nicht darum, dass Menschen wissen wollen, was auf der anderen Seite ist.
Vielmehr bemerken sie zum ersten Mal: es gibt eine andere Seite.
Aber auch die Frage: “Wie gestalte ich die zweite Hälfte meines Lebens?” lässt grundsätzliche Fragen aufkommen.

Wenn man dann nicht mit dem Partner als auch bestem Freund darüber reden kann und offen seine Ängste, Wünsche und Phantasien auszudrücken vermag, wird das Heil oft andernorts gesucht.

Lange gingen wir davon aus, dass Affären ein Zeichen für gestörte Menschen und gestörte Beziehungen sind … und dass deswegen die Beziehungen enden müssten.
Dabei lässt sich gut erkennen, dass, wenn Menschen über Affären oder diesbezügliche Phantasien reden, reden sie über zwei Personen – das Paar. (siehe z.B. Wir sind immer zwei Seiten einer Geschichte.)
Interessanterweise ist in solchen Gesprächen die dritte Person häufig gar nicht Teil der Geschichte.

Und wenn man sich dann interessiert: “Seid ihr früher schon mal mit dem Thema in Berührung gekommen?“,
entweder, weil ihr Kind eines Elternteils seid, der Affären hatte, oder eines Elternteils, der weggegangen ist, oder weil ihr selbst das Kind seid, das in einer Affäre entstanden ist, oder weil ihr Freund oder Freundin seid, an deren Schulter sich jemand ausgeweint hat, oder, weil ihr selbst diese dritte Person seid?
Dann zeigen sich ganz neue Seiten, von denen man sich im Nachgang vielleicht wie versklavt fühlt, weil man nichts ahnend nachgeäfft hat, was man andernorts nicht verstanden hat.

Denn schätzungsweise 85 % der Menschen sind von dieser Thematik irgendwie betroffen, haben aber nie einen Gedanken daran verschwendet.
Jedoch: was man nicht weiß und sieht, darüber stolpert man eher, als über das, was man ins Bewusstsein geholt und verarbeitet hat.
Das betrifft natürlich auch “die Stadien” einer Ehe / einer Langzeitbeziehung.
Für mich ähnelt die Entwicklung einer Beziehung der eines Einzelmenschen: am Anfang müssen wir ganz nahe sein, brauchen viel Hautkontakt, um uns sicher in der Welt / in der Beziehung zu fühlen, um Urvertrauen aufzubauen. Allmählich gewinnt dann der Pol der Eigenständigkeit wieder mehr Gewicht.
Die Entwicklungen der Einzelnen gehen nach unterschiedlichen Uhren, die im Gespräch und im nahen Miteinander immer wieder synchronisiert werden müssen.

Um also eine Langzeitbeziehung lebendig zu halten,
müssen Geben und Nehmen, Nähe und Distanz, Dominanz und Unterordnung, Kontrolle und Freiheit, Begehren und Vertrauen, Überraschung und Vertrautes, Risiko und Sicherheit immer wieder eine passend austarierte Balance finden.
Es braucht Selbstgewahrsein und authentische Offenheit sowie den Mut, sich zu zeigen und zuzumuten, wie auch die Kraft, das vom Partner gezeigte anzunehmen, zu diskutieren und Kompromisse zu finden, die für beide lebbar sind.
Das braucht oft Zeit, die man einander im Miteinander geben sollte, bis die rechte Lösung gefunden ist. Vorher sollte niemand Vorpreschen und aktiv werden.
Wie gesagt, in Beziehung sind wir immer nur die eine Seite eines größeren Ganzen.

Dabei ist es durchaus wichtig egoistisch zu sein. Denn – so erkläre ich es in meinen Therapien immer -, wenn ich egoistischer Weise dicke Kartoffeln ernten möchte, muss ich meinen Acker bestellen und pflegen. Denn nur wenn es meiner Umgebung gut geht, kann es mir dort auch gut gehen.
Oft wird Egoismus (der immer den ganzen Kreislauf in Blick hat) mit Egozentrik verwechselt. Dabei geht es allein um mich, die anderen sind mir egal. Diese Form der Ausbeutung funktioniert eine Weile, doch bald wird die Ernte geringer ausfallen und die Menschen um mich herum werden mich meiden. Niemand möchte ausgenutzt werden.

Untreue ist massiv egozentrisch.
Etwas nur für mich zu machen; z.B. Untreu sein, kann ein wichtiger Schritt sein, um sich seiner Selbst zu vergewissern, oder um sich aus einer zu engen Beziehung zu lösen.
Das kann sogar für eine Beziehung ganz wichtig sein, denn nur getrennt kann man sich aufeinander beziehen und eine Beziehung führen. Macht man alles zusammen, verschwimmen die Grenzen.
Ein idealer Zustand, den man sonst gelegentlich beim Sex miteinander erreicht oder wenn beim gemeinsamen Tun ein Gefühl von Flow eintritt und sich bald wieder auflöst, wird “Normal” und zerstört alles Spannende und die Beziehung, die keine Bezug mehr nehmen kann.

Vertrauen geht nur unabhängig von Gewissheit.
Untreue ist das Mal, insbesondere für Frauen, dass sie sich nicht sorgen müssen, schon wieder etwas für andere Menschen zu tun. Es ist eine Erfahrung von Freiheit – und dann – auf dem Fuße folgend – eben auch von Zerstörung, unwiederbringlicher Zerstörung von Ur-Vertrauen …
… was nicht heißen soll, dass Vertrauen nicht wieder aufgebaut werden kann.
Das aber muss man sich dann redlich verdienen; und dieses neue Vertrauen ist nicht mehr das unschuldige, naive Geschenk des Anfangs, es ist ein bewusstes und gewolltes Schenken, eine Entscheidung.
Es ist ja durchaus oft so, dass der/die Seitenspringer /in den/die Partner/in verlassen wollte, sondern ganz gezielt die Person, die man selbst im Laufe der Zeit geworden ist.
So gesehen ist Untreue zum Teil ein Akt der Selbstfürsorge, wie er eben auch Betrug an der Verabredung mit dem Partner ist.
Es geht ja in einer Langzeitbeziehung beständig darum, was ich im Miteinander für mich getan habe und was ich ich dir damit angetan habe; wie es mit der Balance von “Ich”, “Du” und “Wir” aussieht?
Es ist immer ein Balanceakt von mehr oder weniger und immer eine doppelte Geschichte.

Ein wichtiger Punkt, ich hatte es oben bereits erwähnt, ist unsere Sprache, die wir im Umgang miteinander pflegen.
Denn wir denken in Bildern und Text und der ruft wiederum Bilder und Gefühle und Phantasien hervor, die dann von uns und anderen als realitätsähnlich behandelt werden.
Die Art, wie wir etwas formulieren, ist also die Art, wie die Information in unserem Denken und Fühlen abgespeichert wird.
An diesem, unserem ganz persönlichen Abbild von der Welt orientieren wir uns im Alltag.
Was dort im inneren Bild eingetragen wird, existiert in unserem Bewusstsein – oder nicht.
So ruft z.B. der Satz: “ich habe mich sexy gefühlt” andere Assoziationen und Gefühlszustände hervor, als “ich habe mich lebendig gefühlt”.
Und es macht einen Unterschied der einen erheblichen Unterschied macht, ob wir z.B. in “Es”, “Ich”, “Wir” oder gar in “man” oder “die anderen” reden, ob wir damit Abhängigkeit und Opferrolle oder Eigenverantwortung und Täter-Macht, die Kraft des Handelns – so oder so -, organisieren.

Sexualität ist wie eine Linse, um Gesellschaften und Kulturen zu verstehen: ihre Werte, ihre Einstellungen gegenüber Frauen und Kindern, gegenüber Vergnügen und Fleisch.
Dabei ist es weniger interessant, wie oft Menschen Sex haben oder zumindest behaupten, Sex zu haben oder wie viele Orgasmen angegeben werden, sondern von Interesse ist, was Sexualität heute repräsentiert und was Erotik bedeutet.

Menschen wollen sich in Beziehungen lebendig spüren, wollen Freiheit und Neugier befriedigen.
Was sich wie Gefängnis anfühlt ist das Gegenteil davon.

Oft kommen Menschen in meine Praxis die 10, 20 oder 30 Jahr treu und monogam waren und plötzlich überschreiten sie eine Grenze, von der sie selbst niemals gedacht hätten, dass sie sie überschreiten.

Was bringt Menschen dazu, das zu riskieren, was sie sich über viele Jahre aufgebaut haben?
Oft ist es ein Schrei nach Leben: “Ich habe mich immer um andere gekümmert, und nun bin ich einsam.
Ich will einmal im Leben etwas anderes erleben, und ich weiß gar nicht wie sich das anfühlt.”
Dieses Bestreben, diese Selbsterkenntnis, solche Untreue muss ja nicht das Ende einer Beziehung sein.
Meist sind diese inszenierten Krisen der Anfang von intensiven Gesprächen – die es allzu oft lange nicht mehr gab.
Eine tiefe Kriese, die vielleicht über lange Zeit kompensiert, verleugnet oder mit Aufgaben zugedeckt war, wird nun deutlich. Eine Krise ist immer auch eine Chance und das Paar muss schauen, ob sie diese Kriese gemeinsam überstehen kann, ob es etwas damit anfangen kann, was die Krise lehrt.

Monogamie ist ein soziales Konstrukt.
Es wurde in der Geschichte meist Frauen auferlegt, aus wirtschaftlichen oder patriarchalen Gründen. Es hatte nie mit Liebe zu tun, und heute hat alles mit Liebe zu tun.
Entsprechend verhandeln Menschen dauernd über Monogamie, über Einzigartigkeit, über Individualität.
Das ist jedoch nur der eine Pol, der da betont wird. Die andere Seite ist der Wunsch nach Zugehörigkeit, nach Wertschätzung, Wärme, Sicherheit, Verbundenheit, Treue, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit in einer Welt, die immer unüberschauberer, medialer (vermittelter statt unmittelbar begreiflich) und globaler geworden ist.
Aber selbst wenn man über Masturbation spricht geht es um Monogamie.
Für die meisten ist dies seit der Pubertät ein Teil der eigenen Sexualität. Die Idee, dass jemand kommt und sagt: “Jetzt, da wir zusammen sind, darfst du das nicht mehr machen”, ist unvorstellbar. Auch in einer Beziehung braucht es eigenes! … nicht nur in Bereich der Sexualität.

Aber wenn jemand kritisiert: “anderen gegenüber bist du viel aufmerksamer, als mir gegenüber”, dann steckt dahinter ein Wunsch. Hinter jeder Kritik steckt ein Wunsch!
Wenn der bewusst wäre und ausgedrückt werden würde, wäre das Leben oft leichter.
“ich hätte gerne mehr Aufmerksamkeit von dir. Wenn du mit den Kindern spielst, bist du witzig, verspielt, liebevoll. Wenn du dich um unsere Gäste kümmerst, bist du aufmerksam, fokussiert, hängst nicht gleichzeitig am Telefon. Du gibst dein Bestes, und dann bringst du die Reste mit nach Hause.”
Viele Paare leben von den Resten.
Das Beste geht an die Kinder, an Freunde, an Kunden und Kollegen.
Fast selbstverständlich gilt die Vorstellung, dass eine Beziehung überlebt wie ein Kaktus.
Also: wenn sie 10 % der Kreativität und Einfallsreichtum, die sie in ihre Affäre stecken, ihre Ehe widmen würden, ginge es ihre Ehe deutlich besser.

Wenn eine Affäre entdeckt wird oder sie danach gefragt werden, seien sie ehrlich.
Denn an der Stelle wiegen Lügen schwer; wirken wie doppelter Betrug.
Wenn eine Affäre herauskommt, verursacht sie bei dem anderen manchmal einen enormen Schmerz und berührt ihn in seinem Innersten … wegen der Erwartungen: “Weil ich dachte, du könntest so etwas niemals tun. Weil mein Vater es mein ganzes Leben lang getan hat. Weil ich ohnehin schon dachte, dass ich nicht attraktiv bin und du es jetzt bestätigt hast.”
Solche Enttäuschung – das Aufdecken und Loswerden einer Täuschung / Illusion – wirkt oft verheerend. Das muss man verstehen und aushalten – beide!

Erst wenn der Konflikt / das Thema verstanden ist, kann es zu einer Lösung kommen.
Lassen Sie mich das kurz ein einem Beispiel erklären: wenn ein Gast ins Haus kommt und etwas trinken möchte, kann man losziehen und etwas holen. Ohne dass aber klar ist, ob der Gast Durst hat und ein Wasser möchte, ob er unterzuckert ist und ein süßes Getränk braucht oder Geselligkeit sucht und dabei Kaffee, Tee oder etwas alkoholisches bevorzugt, all das beeinflusst, ob eine passende und gute Lösung gefunden wird.

Nach einer Weile, wenn der erste Schock überwunden ist und man wieder nüchtern denken kann, kann man auf der Basis der tatsächlichen Realität schauen, an welchem Punkt man steht.
Für den Betrogenen ist es auch ein Wertverlust.
Daher taucht immer wieder die Frage auf, ob man das wiedergutmachen kann.
Manchmal hat der Partner eine Idee, was für ihn angemessen wäre.
Manchmal kann und will man diesen Preis zahlen, oft bleibt es etwas, das in der Phantasie funktioniert. In der Praxis des Erlebens ist es jedoch oft anders.
Vermutlich ist der brauchbare Weg, den Verlust zu betrauern und zu sehen, was man mit den vorhandenen und verbliebenen Ressourcen anfangen kann.
Es ist ja immer nur die Frage, was wir aus den Gegebenheiten machen. Denn, wie schon gesagt, werden die Ereignisse erst durch unsere Bewertung zu dem, was sie dann an Wirkung auf uns entfalten.

Ja, Ehrlichkeit kann grausam sein.
Doch nicht immer steht die Reaktion des Betrogenen im Verhältnis zur Schwere der Grenzüberschreitung. Manche reagieren auf einen One-Night-Stand, als handele es sich um eine 10 Jahre währende Affäre. Andere reagieren auf eine mehrjährige Affäre mit sehr viel Fassung.
Es ist immer eine kompliziert Frage, ob man es sagen soll oder nicht.
Sein Gewissen zu erleichtern, ist keine gute Motivation.
Sie bürdet dem Partner möglicherweise etwas auf, das nur marginal etwas mit ihr/ihm zu tun hat.
Es ist also genau zu prüfen, was Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln bedeutet.
In einer Beziehung muss man nicht immer alles teilen . Für manche Dinge muss man ganz allein in die Hölle.
Ist die Aktion jedoch mit einem Beziehungsthema verknüpft, kann das Problem nur gemeinsam gelöst werden. Auch die Verschiebung auf einen anderen Partner wird hier in der Regel nur einen zeitlichen Aufschub bedeuten.
In jedem Fall sollte klar werden, dass man sich jetzt und folgend um seine Beziehung kümmern muss, um sie lebendig und glücklich zu gestalten.
Ohne Sähen keine Ernte, ohne Investment, kein Gewinn!
Erfolg ist dabei nicht vorhersehbar und schon gar nicht garantiert.

Vielleicht kann man eines Tage, während man ruhig zusammensitzt, fragen:
“Gibt es Dinge, die du mir nie erzählt hast?”
“Wollen wir diese wirklich wissen, oder belassen wir es dabei, dass wir es gut miteinander haben?”

In der honey-moon-phase kann man sich kaum vorstellen, dass diese Themen einmal wichtig werden. Aber das Leben ist lang, die Interessen entwickeln sich und die Einzelnen legen innerhalb einer Beziehung ein unterschiedliches Tempo vor. Das kann zu Ungeduld und Hoffnungslosigkeit führen.
Daher sind regelmäßige Themenabende ohne Störung sehr hilfreich – ohne oder mit therapeutischer Unterstützung.
So lernen Paare über Herpes zu sprechen, über SaferSex, über Wünsche und Befürchtungen, über Kinder und Erziehungs- oder Lebensvorstellungen.
Wenn sie lernen in guter, respektvoller, ruhiger und verständnisvoller Weise miteinander zu sprechen und einander zuzuhören, sind sie gut vorbereitet, Krisensituationen gemeinsam aufzufangen.
Die werden kommen … und gehen.
Jede bewältigte Gefahr bringt Selbstvertrauen und Vertrauen in das “Wir”.

Zudem lässt sich dann auch mit Freunden darüber reden:
“Wenn ich deinen Partner mit einem anderen sehen würde, würdest du wollen, dass ich es dir sage?
Welche Art von Freund oder Freundin soll ich sein?”
Denn Untreue ist systemisch, sie ist gesellschaftlich, sie dreht sich nicht nur um zwei Menschen.
Das ist eine soziale Frage,


Quelle und vor allem Anregung: Interview von Johanna Dürrholz und Felix Hooß mit Esther Perel, gleichnamigre Titel in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. 7. 2020
sowie eigene Eindrücke aus Paartherapien

Religion und Wissenschaft – ein Vergleich

Gemeinsam haben Religionen und Wissenschaften,
dass beide versuchen die Welt zu ergründen und zu erklären.<

Zeitlich gehen dabei religiös-spirituelle Welterklärungen den wissenschaftlichen voraus, wenn wir archäologischen Deutungen von Grabfunden und ihren Grabbeigaben glauben schenken.

Da Lernen immer ein Anbauen von Neuem an vorhandenes Wissen ist, durchdringen sich die Vorstellungswelten der Arbeitsfelder immer wieder; ebenso wie sie um Deutungshoheit ringen.

Heute wissen wir vom Streben des menschlichen Gehirns, Zusammenhänge zu erkennen und zu konstruieren, um Phänomene zu beschreiben, zu verstehen oder zumindest in eine Geschichte zu gießen …..
in der Hoffnung, Kontrolle zu erlangen und um das Gefühl von Unsicherheit in der Welt zu verringern.

Wir wissen allerdings auch, wie fehlerbehaftet und gruppenabhängig Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erkenntnisse und Erklärungsversuche (Narrative) sein können.
Wir wissen von bewussten und uns nicht bewussten Aktivitäten unseres Gehirns, von integrierten und weniger integrierten Zuständen, mit denen reale wie vorgestellte Konflikte (was im Gehirn kaum einen Unterschied macht) in uns oder in einer Gruppe verarbeitet werden, so dass es zu sehr unterschiedlichen Lösungen bzw. Scheinlösungen kommen kann.
Ebenso können wir gut nachvollziehen, wie sich Erkenntnis- und Erklärungsmodelle durch die Geschichte entwickelt haben und einordnen, dass in der Frühzeit viele Eindrücke und Erfahrungen in der Welt, die wir heute naturwissenschaftlich erklären können, noch unverstandenen waren.


wesentlicher Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft

Der grundlegende Unterschied ist, dass Religionen Thesen und Theorien über die Welt und ihr Funktionieren aufgestellt haben und zugleich verhindern, dass sie getestet werden, wie es in der Wissenschaft gefordert ist.

Religionen liefern trostspendende, entlastende und ansprechende Ideen und entwerfen eine Maske aus „Wahrheit, Schönheit und Güte“ …
obwohl das Verhalten von Priestern und Gläubigen auf der praktischen Ebene oft nicht den postulierten (fordern, unbedingt verlangen, für notwendig, unabdingbar erklären) eigenen Idealen entspricht: siehe Glaubenskriege, Hexenverfolgung, Sexualunterdrückung oder aktuelle Missbrauchsskandale usw.,
die meist ganz anderen, weltlichen Zielen dienen.
Soziologisch und psychologisch ließe sich das erklären, aber das wäre ein anderes Kapitel.

Natürlich regen sich da Zweifel, aber Glaube muss nicht beweisen und kann es auch nicht.
Hier werden Thesen postuliert (für notwendig und unabdingbar erklärt).
Das kann man glauben oder nicht.
Zweifel kommen allerdings auch auf, da viele archäologische Befunden den schriftlichen Überlieferungen widersprechen.
z.B. berichten Finkelstein, Israel, Silberman, Neil A., in ihrem Buch >Keine Posaunen vor Jericho: Die archäologische Wahrheit über die Biebel<, 2004 über die Faktenlage an Befunden in der am meisten umgegrabenen Region der Welt und stellen fest, dass etliche Schilderungen der Bibel mit historischen Fakten nicht zusammenpassen. z.B. gab es in Jericho keine Stadtmauer, die von Posaunen hätte zum Einsturz gebracht werden können.
Das mag auch nicht wundern, wenn man bedenkt, dass viele Geschichten erst Jahrzehnte bis Jahrhunderte später aufgeschrieben wurden. Oder wissen Sie z.B. noch, was Ihre Ur- oder Ururgroßeltrn bei ihrer Hochzeit für Kleider trugen oder gar was bei der eigenen Hochzeit auf dem Standesamt gesagt wurde?
Entsprechend haben Gläubige Erklärungen dafür, die diese kognitive Dissonanz durch Deutungen überwinden.

Ein überzeugendes Argument ist, dass es sich über Jahrtausende als gute Strategie erwiesen hat, zu glauben – viele wissenschaftliche Befunde berichten von positiven Effekten, die das Zusammenstehen in einer Gemeinschaft auf den Einzelnen hat.
Natürlich ließen sich auch dazu viele Gegenbeispiele ins Feld führen.


Theorien und Erzählungen (Narrative), ganz allgemein betrachtet, können auf allen Ebenen wachsen und gedeihen, selbst wenn sie unwahr, hässlich oder grausam sind.

Damit sind wir schon mitten in den Errungenschaften der Wissenschaft.
Ihre Geschichte wurzelt in dem Versuch, die Welt, die Natur und den Kosmos zu verstehen.
Anfangs spielten dabei Astronomie, Physik, Mathematik und Philosophie eine große Rolle.
Später brachten Chemie, Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Technik und andere hervorragende Erkenntnisse.
Zentraler Gedanke der Wissenschaft ist es, Theorien über die Welt aufzustellen und sie zu testen.
Dabei war das Streben: dass wissenschaftliche Erkenntnisse beweisbar, nachprüfbar bzw. in ihren Ergebnissen wiederholbar und zweckfrei sei.
Grundsätzlich ist Wissenschaft also ein Prozess; eine Sammlung von Methoden, mit denen man wahre Hypothesen *) von falschen unterscheiden kann.

„Ta-ta-ta-….“

Welcher Ton folgt da wohl?
Haben Sie eine Hypothese, eine Vermutung?

Diese vier Noten kennt fast jeder und dabei sind sie schon mehr als 200 Jahre alt. Erfunden hat dieses Motiv Ludwig van Beethoven.
Das „Ta-ta-ta-taaa“ stammt aus der 5. Sinfonie („Schicksals-sinfonie“), 1. Satz (Allegro con brio)

*) Hypothese, griech. hypóthesis „Unterstellung“,
meint eine als logische Aussage, als Annahme, deren Gültigkeit man zwar für möglich hält, die aber bisher nicht bewiesen ist.
Bei der Formulierung einer Hypothese ist es üblich, die Bedingungen anzugeben, unter denen sie gültig sein soll: „Immer wenn …, dann ….“.
Die Hypothese muss anhand ihrer Folgerungen überprüfbar sein, wobei sie je nach Ergebnis entweder bewiesen (verifiziert) oder widerlegt (falsifiziert) werden würde.

Dabei ist Wissenschaft keineswegs perfekt. Gelegentlich betrügen Wissenschaftler, um Macht und Einfluss zu gewinnen, und ihre falschen Ergebnisse können jahrzehntelang überleben und ganze Gruppen oder Generationen in die Irre führen.


Falsche Theorien gedeihen – in der Wissenschaft wie in der Religion
oft aus denselben Gründen

Zum Beispiel überdauern trostspendende Vorstellungen eher als angsteinflößende;
Geschriebenes wird als wahrer und beständiger angenommen als Gesprochenes, das flüchtiger wirkt; Ideen, die Menschen entzücken und Emotionen wecken, sind populärer als solche, die das nicht tun; Menschen sind eher geneigt Vorstellungen von Menschen, die persönlich bekannt, berühmt oder erfolgreich sind, anzunehmen, als solche von Menschen, deren Haltung man nicht teil oder die ethnisch einer anderen Gruppe angehören.

Besonders gut verteilen und erhalten sich Informationen und Geschichten (Narrative), wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
Wiedergabetreue (sowohl bei genetischen wie imitatorisch geprägter Informationen), Fruchtbarkeit (in Sinne der weiten Verbreitung) und Langlebigkeit der Information (z.B. über assoziiierte positive Emotionen, Wiederholungen oder Schriftform) .
Als sehr praktisch hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte erwiesen, wenn nicht nur ein Produkt kopiert, sondern eine Herstellungsanleitung (z.B. für die Praxis eines Rituals) weitergegeben wird.


Da sehen wir zum Beispiel religiös motivierte Kreationisten (latein. creatio „Schöpfung),
die davon ausgehen, dass ein Gott die Welt, so wie sie ist, erschaffen hat.
Der Schöpfungsmythos besagtdass das Universum, das Leben und der Mensch buchstäblich so entstanden sind, wie es in den Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen und insbesondere in der alttestamentlichen Genesis geschildert wird.
In seiner strengsten Form postuliert Kreationismus ein Erdalter von einigen Tausend Jahren, (wogegen inzwischen alle wissenschaftlichen Befund und Messungen sprechen).
Aber Glaube muss nicht beweisen, er postuliert (= fordert, erklärt für notwendig und unabdingbar).
Dem kann man folgen – oder auch nicht.

Oder Kindern werden von früh auf (dann wenn sich ihr Gehirn und ihr Denken ausbilden) Geschichten erzählt von einem allmächtiger und allwissender Gott in irgendeinem Himmel
und von Jesus Christus, der als Gottes Sohn von der Jungfrau Maria geboren wurde,
der nach seiner Kreuzigung von den Toten auferstanden
und nun (in alle Ewigkeit) imstande ist, unsere Gebete zu erhören.
Darüber hinaus glauben Katholiken, dass ihre Priester ihnen in der Beichte Sünden vergeben können,
dass der Papst im buchstäblichen Sinne das Wort Gottes verkündet
und dass sich Brot und Wein während der Messe in das Fleisch und Blut Christi verwandeln.

Jedem, der nicht von diesen christlichen Überzeugungen infiziert ist, müssten solche Vorstellungen bizarr erscheinen. Vielleicht würde er sich fragen

  • Wie kann ein unsichtbarer Gott allmächtig wie auch allwissend sein?
  • Warum sollten wir eine 2000 Jahre alte Geschichte glauben, der zufolge eine Jungfrau ein Kind geboren hat?
  • Was kann es nur bedeuten, wenn man sagt, dass sich Wein in das Blut Christi verwandelt?
  • Wie kann jemand für unsere Sünden gestorben sein, wenn wir damals noch nicht einmal geboren waren?
  • Wie kann er von den Toten auferstehen, und wo ist er jetzt?
  • Wie kann ein Gebet, das man im stillen Kämmerlein spricht, etwas zu bewirken?

Im Verlauf der Zeit zeigten sich natürlich viele frühere Vorstellungen (wie auch Lebenwesen) auf dem Weg zu einer tragfähigen Theorie (einem langlebigen Modell) als nachweislich falsch.
So findet man z.B. weltweit immer wieder die Vorstellung, dass mächtige Wesen entrückt, dem Himmel nahe, auf Bergen (z.B. dem Olymp) wohnen oder dass es eine unsichtbare Kraft (Prana, Chi, Atman, Manitu, Od, Äther, elan vital, Libido, Orgon) gibt, die Unbelebtes in Lebendiges verwandelt.
Anders hatte man sich das nicht vorstellen können.
Neuere Erklärungsmuster konnten solche Vorstellungen nachweislich widerlegen und entmystifizieren.

Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Befunden, die die Wirkungen von Gebeten und die positiven Effekte von Glauben bzw. Gemeinschaft belegen, doch es gibt kaum Experimente, über die solche Aussagen verifizierbar (durch Überprüfen die Richtigkeit einer Sache bestätigen) wären.
So dürfte eine hochwahrscheinliche Erklärung dafür in Erwartungshaltung, Placeboeffekten, in sozialen Phänomenen und im Glauben daran zu finden sein.
Wie schon gesagt, muss Glaube nichts beweisen, es reicht den Gläubigen die Vermutung einer Richtigkeit der Hypothese. Der Inhalt des jeweiligen Glaubens (interessanterweise von jeder der vielen verschiedenen Glaubensrichtungen) wird für wahrscheinlich gehalten; oft sogar mit besonderen spirituellen Erfahrungen, die ein absolutes Wissen suggerieren, begründet.

Auch mir persönlich sind solche Erlebnisse, so genannte Gipfelerfahrungen (z.B. nach dem Besteigen eines Berges mit dem sich dann öffnenden freien Blick und einem Gefühl der Verbundenheit mit allem) oder als Satori aus bewegten oder stillen Meditationen oder kontemplativen Versenkungen bekannt.
Bei mir haben diese Erfahrungen jedoch einen anderen Interpretationsweg als den religiösen genommen. Das dürfte individuell unterschiedlich und von lebensgeschichtlichen Wegen abhängig sein.


Aus wissenschaftliche Sicht sehen wir, statt eines schöpfenden und planenden Geistes, über Millionen von Jahren vor allem physikalische und chemische Prozesse, die sich evolutionär entwickelten und sich selbst ein Umfeld für diese Entwicklungen wurden.

Der Historiker Yuval Noah Harari beschreibt in >Eine kurze Geschichte der Menschheit< 2015 die Folgen des Urknall wie folgt:
„Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis, den wir als Urknall bezeichnen. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.
Etwa 300.000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.
Vor 3,8 Milliarden Jahren, auf dem Planeten, den wir Erde nennen, begannen bestimmte Moleküle, sich zu großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Deren Geschichte nennen wir Biologie.
Und vor rund 70.000 Jahren begannen Organismen der Art Homo Sapiens mit dem Aufbau von komplexeren Strukturen namens Kulturen. Deren Entwicklung nennen wir Geschichte.
Tiere der Menschenaffenfamilie gab es schon vor 6 Millionen Jahren.
Die ersten menschenähnlichen Lebewesen betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne Namens Erde. Damals gab es eine ganze Reihe von Menschenarten.
Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus.
Vor rund 2 Millionen Jahren verließen die Urmenschen ihre ursprüngliche Heimat Ostafrika und machten sich auf den langen Marsch nach Nordafrika, Europa und Asien.
Durch Anpassung an die verschiedenen Klimazonen entwickelten sich z.B. die, die wir heute Neandertaler, Solo-Menschen, Homo florensiensis, Homo erectus, Homo denisova, Homo rudolfensis oder Homo ergaster nennen, von denen die letzten bis vor ca. 10.000 Jahren gleichzeitig mit dem Homo sapiens auf unserem Planeten lebten.
Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Umwälzungen geprägt:
Die kognitive Revolution vor etwa 70.000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang.
Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12.000 Jahren beschleunigte sie und
die wirtschaftliche Revolution, die vor ca. 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und könnte der Beginn von etwas völlig Neuem sein.“

Ca. 500 Millionen Jahre lang waren es bestimmte Moleküle, die sich als effektive Speichermedien für die Reproduktion (Vervielfältigung, Replikation) von Proteinen und anderen Bausteinen des Lebens erfolgreich erwiesen. Mit diesen Erbinformationen wurde die Informationen, wie man seinesgleichen herstellt, durch Vererbung vertikal von Generation zu Generation weitergegeben. Durch Mutationen (Abschreibfehler) entstandene Variationen und via Selektion in verschiedenen Umwelten, die unterschiedliche Merkmale und Fähigkeiten herausbildeten und durchsetzten, während andere verschwanden.

Waren der evolutionäre Prozess von Lebewesen anfangs von Genen und zufälligen Mutationen abhängig, betrat damit, dass bestimmte Primaten begannen Verhalten zu imitieren und Sprache zu entwickeln, ein neuer bedeutender Faktor die Bühne.
Mit der Sprache aber war ein weiterer Replikator (Wiederholer, Vervielfältiger) entstanden, der einen entscheidenden Umschlag in den Möglichkeiten markiert, wie nun Wissen auch horizontal, innerhalb einer Generation, und von einem an viele, weitergegeben werden konnte.
Mit Sprache ließen sich nun nicht nur Produkte kopieren, sondern auch Produktions- und Bedienungs-anleitungen herstellen; es ließ sich aber auch völlig Neues kreieren, das über die Natur hinausging.

Zugleich aber begannen nun auch Bewusstseinsinhalte (Narrationen) um ihr „Weiterleben“ zu konkurrieren.
Eine neue Art der Selektion, wie auch der Koevolution, von Genen und Gedanken bzw. Wissen begann.
Mit den neuen Möglichkeiten entwickelte sich das menschliche Gehirn, während immer mehr Geschichten, Klatsch und Tratsch – was andere getan haben, vielleicht tun könnten, denken, erwarten usw. – Anleitungen, entstanden, mit denen sich das Wissen der Menschheit aufeinander aufbauend entwickelte.

Mit der Schrift erhöhte sich die Kopiertreue und die Haltbarkeit von Informationen.
Spätestens seit es gedruckte Bücher gab, erhöhte sich auch deren Verbreitungsgrad von Informationen, der sich mit dem Aufkommen des Internets vor kurzem noch einmal vervielfältigte und beschleunigte.


Replikatoren, seien es Gene, Computerprogramme, Viren, Geschichten oder andere Informationen, sind lediglich chemische, sprachliche oder sonstwie codierte Algorithmen, die Information enthalten, etwas herzustellen, zu kopieren, zu kopieren, zu kopieren ….
Sie sind lediglich eine Information, etwas in bestimmter Art und Weise zu tun / ablaufen zu lassen.

Nicht dass Algorithmen willkürlich auftreten; sie folgen den Regeln eines deterministischen Chaos.

Ein einfaches Beispiel dafür ist das Fallen eines Blattes. Es fällt je nach dem Ausgangszustand in sehr unterschiedlicher Weise nach unten – es verhält sich chaotisch. Trotzdem wirken auch in diesem Falle physikalische Gesetze. Man bezeichnet das Verhalten solcher Systeme als deterministisches Chaos.

Dabei kann man nicht voraussagen, was passiert, es lassen sich aber Wahrscheinlichkeitsbereiche aufzeigen, was mutmaßlich, höchstwarscheinlich, möglicherweise passieren wird.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist image-3.png
Quelle: Lizenzfreie Stockvektor-Nummer: 1021227001 von Vectorpocket

Immer dann wenn 3 Voraussetzungen gegeben sind, kommt es unweigerlich zu einer Evolution (lat. evolvere = abwickeln, entwickeln).
1.) Reproduktion oder Replikation, indem von einem System Kopien hergestellt werden, die sich 2.) voneinander und von ihrem Ursprungssystem durch Kopierungenauigkeiten unterscheiden. Die Folge ist Variation. 3.)  zeigen sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt unterschiedliche Wahrscheinlichkeit einer jeden Variante, als Element in jene Stichprobe zu gelangen, aus der die nachfolgende Population zusammengesetzt wird: Selektion.

Da diese Prozesse als deterministisches Chaos zu beschreiben sind, herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die biologische Evolution nicht zwangsläufig zur Entwicklung von bewusster Intelligenz führt. Auf der Erde wurden die Bedingungen der Evolution von Intelligenz erst nach mindestens 530 Millionen Jahren erfüllt, obwohl die fortschreitende Evolution von Vielzellern schon zuvor eine Reihe notwendiger Voraussetzungen bereitstellte.

Dazu ist kein leitender Geist (Gott, Ich, Seele) notwendig und lässt sich auch (auch im eigenen Körper) nicht finden.
Selbst unsere Vorstellung von einem handelnden Selbst ist, wissenschaftlich betrachtet, nur eine Geschichte, die uns hilft im Alltag besser zu bestehen.

Diese Vorstellungen sind schwer auszuhalten, zudem erzeugen sie unangenehme Gefühle, die man nicht haben möchte, eben sowenig wie die volle Verantwortung – ohne Schutz – für das eigene Leben. Daher greifen oft Abwehrmechanismen, die uns von dieser inneren Spannung erlösen.

Beim menschlichen Denken und Verhalten unterliegen die Verläufe den Aufmerksamkeitsfokussierungen, den gelernten und bereits vorhandenen Informationsfeldern, den emotionalen Stimulationen, wie auch gesellschaftlichen Drücken und Popularitäten, die Selektionsdrücke organisieren.

Aktuelles Beispiel in Zeiten der Corona-Krise 2020 wurde das Tragen eines Mundschutzes zu einer Pflicht ausgerufen, während noch kurz zuvor ein Vermummungsverbot galt und eine leidenschaftliche, ablehnende Burkadiskussion geführt wurde und Masken eher dem Karneval zugeordnet wurden. Regeln können sich, wenn hinreichend neue Geschichten in einer bestimmten Richtung erzählt werden, sehr schnell ändern.
Dazu in einem anderen Artikel mehr.)

Die Algorithmen an sich sind subtratneutral. (d.h. sie funktionieren mit einer breiten Palette von Medien und unterschiedlichen Materialien.)
Substratneutral heißt, dass das Material, in dem solche Prozesse stattfinden, spielt also keine Rolle – nur die Logik des Prozesses ist wichtig: seine Logik lässt sich gleichermaßen auf jedes beliebige System anwenden, in dem es Variation, Selektion und Vererbung (Weitergabe von Information an andere) gibt.
Sie verkörpern also ein allgemeines Prinzip der Evolution.

Dennoch sind solche algorithmische Handlungsanweisungen sind völlig vernunftlos.
Im evolutionären Prozess entwickelte sich ja erst ein Gehirn, das steuernde Gedanken denkt.
Und obwohl Algorithmen so ohne Vernunft funktionieren, ergeben sich aus solchen Kopieranleitungen im Laufe langer Zeiträume, in denen diese Prozesses abgelaufen sind, zwangsläufig einmalige, komplexe und unvorhersehbare Entwicklungen, wenn nur die Startbedingungen stimmen.
Dazu brauche es keine intentional steuernde Instanz.
Alles was es braucht, sind die richtigen Startbedingungen, dann ist Evolution die zwangsläufige Folge.


Dennoch ist es menschlich nachvollziehbar, dass, wie selbstverständlich, in Kathegorien der eigenen Vorstellungswelt gedacht wird, um vorgefundene Dinge und und Situationen sowie die eigenen Reaktionen darauf, zu interpretieren.

Aber das bedeutete nicht, dass die weitergegebenen Erkenntnisse wahr sein mussten.
Sie mussten entweder alltagstauglich funktionieren, begeistern oder von genügend Leuten weitergetragen werden.

Früher „erbten“ die Kinder den Glauben, den Hof oder das handwerkliche Können der Eltern, so wie sie deren Gene geerbt hatten. Und auch die in Erzählungen wurden die Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben und später in schriftlicher Form langlebig gemacht.
Heute sind viele Informationen vielen zugänglich und im Wettstreit der angebotenen Interpretationsmöglichkeiten funktionieren die alten Weitergabemechanismen nicht mehr so gut, wie sich an den Zahlen der Kirchenaustritte zeigen lässt.
Das heißt aber nicht, dass die Menschen nun besser integrierte Zustände erreicht haben und Ambivalenzen und Widersprüche besser aushalten und bewusster damit umgehen. Das zeigt sich unter anderem an vielen spirituellen, aber auch politisch-ideologisch radikalen Strömungen, die aktuell wieder Bedeutung gewinnen.

Ein hoher Verbreitungsgrad oder eine lange Traditioneine gesellschaftlich gleichklingende Strebung, (wie wir sie in unserem Lande z.B. mit katholischen und evangelischen Gebieten hattendie bestimmte Verhaltensnormen vorgaben) führen psychologsich zu dem Eindruck von Konsistenz (latein. consistentia = Folgerichtigkeit, Geschlossenheit, logische Widerspruchsfreiheit).
Diese subjektive Gefühl macht solche subjektiven Narrative allerdings in der Realität nicht objektiv wahrer.
Höchstens lassen sich aus den Geschichten die Vorstellungen ihrer Zeit nachvollziehen.


Literatur

Susan Blackmore, Die Macht der Meme, 2000
Wikipedia

Kommentar:

Thomas Ransbach predigte in einem Wortgottesdienst in der St. Thomas Morus-Kirche zum Thema:
“Wie hältst Du es mit der Wahrheit” und beschäftigte sich mit Fake-News und dem Johannesevangelium. Darüber zitiere ich aus dem Gießener Anzeiger: “Wahrheit ist seit dem Einsetzen der Aufklärung in Europa vor rund 240 Jahren nicht länger vom Glauben und seinen dogmatischen Postulaten bestimmt, sondern vom menschlichen Forschergeist, vom Fragen, Prüfen, Messen, Rechnen, Vergleichen und systematischen Validieren, von der verantwortungs-vollen Debatte in der Demokratie, vom Argument, vom Zuhören, von Logik. Niemand halte da alleine die Wahrheit in der Hand, aber die öffentliche Debatte von und mit den Forschern und Naturwissenschaftlern unserer Zeit bringe uns nah an die Wahrheit der Welt und “weg von Sektierern, populistischen Schreihälsen und irren Verschwörungstheoretikern, die in allen Ländern ähnliche ihre Wahnideen verbreiten und Tatsachen leugnen. Sie sind nicht vom Geist oder Liebe gelenkt, sondern ausschließlich von archaischen, unreflektiertem Hass.” Sie haben nicht das Leben auf der Erde im Blick, …. das es zu bewahren gilt, sondern einzig den stets schnell ausfindig gemachten äußeren und und schuldigen Feind und seine Komplizen. Sich selbst sehen sie stets als unschuldige Opfer und fühlen sich paranoid von fremden Mächten oder Kräften überwacht. Ihre Lügen, allzu einfachen Antworten und Verzerrungen der Wirklichkeit gefährden öffentliche engagierte Menschen wie Wissenschaftler und Politiker und deren Familien. ….
Die Wahrheit suchen, sei der Kern der Wissenschaft – auch der medizinisch-virologischen Disziplin – und aller verantwortungsbewusst denkenden, handelnden und forschenden Menschen.
Ransbach meinte, es sei sehr viel besser, in einem permanenten, öffentlichen Erkenntnisprozess mit all seinen Lücken, Schwächen und Fehlern nach den physischen Eigenschaften und dem biochemischen Lebenszyklus zu suchen, als darüber irgendetwas zu behaupten und das gewinnträchtig zu verbreiten.”

Quelle: Gießener Anzeiger, 12. Juni 2020, Artikel von Klaus-Dieter Jung: 2000 Jahre alt und dennoch aktuell