Realität – eine Frage der Perspektive

Gastbeitrag von Dr. Lothar Drese

Die subjektive Konstruktion der Realität

Sitzen Sie gerade in Ruhe? Sind Sie sicher?
Ich behaupte, Sie rotieren gerade mit 1.670 km/h in einer Distanz von 6.300km um ein Zentrum.

Warum erleben Sie das anders?
Es dürfte zunächst merkwürdig erscheinen, aber die mit Ihnen verbundene Erdrotation haben Sie wahrscheinlich schnell entlarvt.
Gleichzeitig schweben Sie übrigens mit 108.000km/h in einer Distanz von 147 Mio. km um ein anderes Zentrum.

Diese vom vermeintlich ruhigen Sitzen abweichende Wahrnehmung hat man jedoch nur aus einem anderen Blickwinkel,
in diesem Fall liegt der fiktive, gedachte Betrachter außerhalb unseres Sonnensystems.

Anderes Bild: Eine Kamerasonde in Ihrer Blutbahn würde indes aufzeichnen, dass Sie ganz und gar nicht in Ruhe sitzen, sondern sie würde ein jede Sekunde zuckendes Etwas zeigen, selber in einem mit 4 km/h durch den gesamten Körper strömenden Fluss treiben und ständige Zusammenstöße mit merkwürdig aussehenden Gebilden verzeichnen.

Anderes Szenario: Auf einer rotierenden Schallplatte sitzt eine Mini-Version A von Ihnen. Mini-Version B liegt auf dem Tonabnehmer und eine weitere Version C hat es sich auf dem Dorn gemütlich gemacht und schaut an die Decke… welche Realitäten existieren in diesem Gefüge?

A erlebt eine sich um ihn drehende Umgebung und
B erfährt eine unter sich translatierende *) Welt, also einen Ortswechsel ohne Richtungsänderung.
Rein gar nichts passiert in der Realität von C.
Als Außenstehender sehen Sie einfach nur einen rotierenden Plattenteller, auf dem eben eine Mini-Version von Ihnen sitzt und sich mitdreht. Die erlebten Realitäten der anderen Versionen bleiben für Sie unentdeckt.

*) translatierend = sich verschieben, einen Ortswechsel ohne Veränderung der Form oder Richtung durchführen

Welche davon ist nun die wirkliche Realität?

Knobelfragen: Ist das vor Ihnen liegende weiterhin farbig, wenn Sie sich umdrehen?
Macht ein umfallender Baum im Wald ein Geräusch, wenn Sie nicht dort sind?

Was ist überhaupt Realität?
Die Physik erklärt dies mit der Wahl des Bezugssystems. Sie können sich also aussuchen, in welchem Bezug Sie Ereignisse betrachten und beschreiben.
Es gibt definitiv mehrere Möglichkeiten, das eine Bezugssystem existiert nicht und die eine Realität auch nicht.

Das, was für Sie gerade passiert, passiert anderen nicht. Es ist Ihre ganz persönliche Realität, nicht deren.
Sofern es keine Auswirkungen auf andere hat, werden sie nie von Ihrer Realität erfahren.
Realität ist nicht alles, was auf der Welt zu einem Zeitpunkt passiert.
Für jeden persönlich ist bedeutsam, was in der eigenen Wirklichkeit wirklich wirkt.
Das aber ist für jeden etwas anderes, abhängig von Vorerfahrungen, Erwartungen, Standpunkt, Perspektive, Fokus, Messverfahren, Bedeutungsgebung und prognostizierten Auswirkungen.

Jeder Mensch erlebt also seine eigene Realität.

Es ist alles eine Frage der Perspektive des Beobachters.

Besonders nachvollziehbar beantwortet der Physiker Erwin Schrödinger 1935 die Frage nach der Realität mit dem berühmten Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“:
In einer verschlossenen Kiste sitzt eine Katze mit einem Giftköder. Ob die Katze den Köder gefressen hat und verstorben ist, wissen Sie nicht. Sie können sich erst sicher sein, wenn Sie nachschauen. Sie müssen die Realität also erleben! Solange Sie die Kiste nicht öffnen, erleben Sie eine Realität, in der die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist. Sie werden die Realität in der Kiste niemals erfahren, solange sie verschlossen bleibt.

In welcher Form Sie nun Ihre eigene Realität wahrnehmen, wie Sie sie bewerten, hängt wiederum von Ihrer Auswahl des Bezugssystems ab.
Es ist Ihre Interpretationssache – also Ihre Wahrnehmung bzw. Ihre aktive Wahrgebung, da kein passiver Prozess!
Sie nehmen Ihr geführtes Leben als eine ständige Interpretation des Erlebten wahr, aufgrund von Erfahrungen und Wissen – es ist Ihre subjektive Sichtweise. Sie haben die Wahl, Erlebtes unterschiedlich zu betrachten und zu bewerten.

Oft geht es Menschen schlecht wegen der Interpretation ihrer Wahrnehmung, also ihren Gedanken und nicht wegen dem, was wirklich gerade passiert.
Ereignisse sind einfach Ereignisse und als solche wertfrei. Deren Bedeutung fügen wir aktiv hinzu. Interpretationssache eben.

Oft sind Menschen unzufrieden mit der „Realität“ bzw. dem, was sie betrachten und dessen Bewertung, sehen aber viele andere (positiven) Dinge derselben Realität nicht… nur weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten!

Oft haben Menschen in der Gegenwart Angst und Sorgen vor der Zukunft, also vor einer Zeit, die gar nicht existiert!
Und diese Zeit, die sie sich mit Ängsten und Sorgen kreiert haben, die ihnen die Gegenwart verdirbt, wird vielleicht niemals passieren.
Diese Sorgen und Ängste haben nichts mit dem tatsächlichen Jetzt zu tun. Das Jetzt passiert jetzt… und alle Probleme des Jetzt haben auch ihr Gutes, Sie müssen nur mal aus einer anderen Perspektive darauf sehen…

Fragen Sie sich: wozu mache ich das gerade? Wie stelle ich meinen Zustand jetzt gerade her? Welche Auswirkungen hat mein Tun? Für wen mache ich das? Woher könnte der Impuls zu meinem Erleben kommen? Welches Bedürfnis könnte dahinterstecken – bewusst oder auch unbewusst?

Fotos: Drese


Kommentar:

Hallo, Herr Drese,

obwohl ich Schrödingers Katze schon lange kenne, kam mir eben der Gedanke, dass das Gleichnis einen Denkfehler enthält. Es zielt nämlich lediglich auf die Sinneswahrnehmung “Sehen” ab. 
Ich könnte nämlich auch die Sinneswahrnehmung “Tasten” hinzu nehmen. Dann würde ich Bewegungen fühlen oder Wärme – oder das Gegenteil. Nehme ich die Sinneswahrnehmung “Riechen” hinzu, so muss ich nur ein paar Tage warten und würde eine tote Katze riechen. Selbst mit dem “Hören” käme ich weiter. Nur das “Schmecken”  will ich hier mal außer Acht lassen.

Eine gute Woche und herzliche Grüße,
Eveline Renell

Antwort:

Liebe Frau Renell, 

vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Das „Nachsehen“ beschränkt sich jedoch nicht nur auf „Sehen“, sondern bezieht sich auf das grundsätzliche Öffnen der Kiste, um „Wahrzunehmen“, mit welchen Sinnen auch immer. 
Nehmen wir die Kiste als hermetisch und akustisch abgeriegelt, bleibt uns die dort herrschende Realität bei verschlossener Kiste für immer verborgen… 

Freundliche Grüße
Lothar Drese

Lebens-Erwartungen

Artikel ausgelöst durch “Corona führt zu Übersterblichkeit” im Gießener Anzeiger

Graphik aus Statista

Was wünschen sich die Deutschen vom Leben? Für 70 % ist es Gesundheit, gefolgt von finanzieller Sicherheit (67%) und Familie und Freunden (60%).
„Ein langes Leben“ höre ich oft in Gesprächen mit Gleichaltrigen, weniger von Jüngeren. Da mein Vater bereits 1899 geboren wurde, kann ich meine Familie etwa bis 1870 zurückverfolgen. Patchwork-Familien gab es eine ganze Menge. Aber nicht, weil man sich scheiden ließ, sondern weil viele Frauen im Kindbett starben und der zurückbleibende Witwer wieder heiratete, auch und wohl vor allem, damit Kinder und Haushalt versorgt wurden. Das waren wohl selten Liebesheiraten, sondern Zweckgemeinschaften und würde erklären, warum die Rolle der Stiefmutter in Grimms Märchen so negativ dargestellt wird.
Um 1870 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 40 Jahren. Und noch 1950 starben die meisten Deutschen mit unter 70 Jahren. Heute werden Männer durchschnittlich 78,9 und Frauen 83,6 Jahre alt. Während meines eigenen Lebens, vor allem in den letzten 25 Jahren, konnte ich beobachten, wie die Zahl der Hochzeits-Jubiläen stetig stieg. In Wikipedia findet man dazu: 1991 feierten rund 71.000 Ehepaare in Deutschland ihre Goldene Hochzeit. 10 Jahre später waren rund 190.000 Paare länger als 50 Jahre verheiratet.[5] 2010 waren 1 Million Ehepaare länger als 50 Jahre verheiratet. 10.000 Paare konnten 2010 auf 65 Ehejahre zurückblicken.6]

Eveline 70, Winfried 73 Jahre alt (2017) (Foto privat)

„Wir möchten zusammen alt werden“, das ist ein Wunsch, den auch heute die meisten Paare am Anfang ihres gemeinsamen Lebens haben. In unserer Zeit wäre es vielen vergönnt. Mit den Großeltern meines Mannes konnten wir 1997 noch die Gnadenhochzeit (70 Jahre) feiern. Sie konnten Kinder und Enkel aufwachsen sehen und sogar die Geburt und Kindheit der Urenkelin erleben. Das war vor 150 Jahren eine große Seltenheit. Kaum jemand wurde „alt wie Methusalem“.

Was bewog mich eigentlich zu diesem Artikel? In Corona-Zeiten ist immer wieder von „Übersterblichkeit“ die Rede. In einem Interview von Karl Schlieker mit dem Vizepräsidenten des Statistischen Bundesamtes (Gießener Anzeiger vom 10. 12. 2021) heißt es dazu „Im Jahre 2020 waren nur drei Prozent der Verstorbenen jünger als 60 Jahre, 70% waren dagegen älter als 80 Jahre. Covid-19 war in dieser Altersgruppe die dritthäufigste Todesursache. Häufig hätten die Betroffenen mehrere Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Demenz, Niereninsuffizienz und Diabetes.
Daraufhin habe ich mal die Todesanzeigen des Monates Dezember im GA ausgewertet (die ich seit Beginn der Corona-Pandemie täglich verfolgt habe).

Meine Auswertung ergab Folgendes über die Zahl der Todesfälle pro Geburts-Jahrzehnt (insgesamt 74, in 11 Anzeigen war kein Geburtsjahr genannt).

10 Frauen starben mit durchschnittlich 93 Jahren, 14 mit 85 Jahren, 6 mit 75 Jahren.
6 Männer starben mit durchschnittlich 96 Jahren, 18 mit 84 Jahren, 6 mit 73 Jahren.
Das heißt, viele wurden erheblich älter als es der durchschnittlichen heutigen Lebenserwartung entspricht.
Nun muss ich aber selber meine Liste in Frage stellen. Sie zeigt nur einen winzigen Ausschnitt aus den Todesfällen in Stadt und Landkreis Gießen. Da auch Todesanzeigen Geld kosten, werden viele Menschen darauf verzichten. Und weil die Lebenserwartung noch immer stark von Bildung und Einkommen abhängt, sterben viele Menschen in viel jüngeren Jahren. Das lässt sich nur über die Sterbestatistik herausfinden.

Die bekannteste 95jährige: Queen Elizabeth
Foto Internet

Für mich heißt diese Dezember-Momentaufnahme allerdings auch: Ewig will und kann ich nicht leben. Ich habe meine Mutter und meine Oma schon lange überholt. Mein Vater starb mit 82. Wenn ich dieses Alter erreiche, habe ich noch acht Jahre vor mir. Bisher hatte ich viel Freude am Leben. Irgendwann ist unabhängig von Corona Schluss.  Von daher gefällt mir das Gerede von der Übersterblichkeit überhaupt nicht.

Quellen: .statista.com Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland
.wikipedia.org
Hochzeitstag

Schafe streicheln als Gutes für die Seele

oder: …streichelt auch unsere Seele?

Mal ein Schaf streicheln

Auch das kann gut für unsere Seele sein. Ich möchte sogar behaupten, dass diese Berührung positive Gefühle und Gedanken beflügelt.

In Frankenbach zwischen Sportplatz und Busparkplatz standen diese kuscheligen Tiere auf einer Wiese. Als wir davor parkten um unseren wunderschönen Rundweg am Dünsbergsgrund zu wandern, sahen einige Schafe auf und ein Schaf kam sogar so nah, dass ich es streicheln konnte. Was für ein schönes Gefühl den Kopf dieses Tieres zu berühren und zu erleben, dass auch das Schaf das Streicheln zu genießen schien. Diese weiche Wolle zu fühlen und dieses tierische Vertrauen zu erfahren, erfüllte mich mit Freude. Ich erwartete nur noch, dass das Schaf schnurren würde wie eine Katze. Ob Schafe wie Katzen Namen haben? Fragte ich mich.

Mein Kuschel-Schaf taufte ich Bella, die Schöne mit ihren sanften Augen der weichen Schnauze und der dicken Wolle. Auch wenn es kälter werden würde, Bella würde nicht frieren und die Wiese sah noch so schön grün aus, Bella und ihre Artgenossinnen und Artgenossen würden nicht hungern.

Sie strahlten Ruhe und Zufriedenheit aus.

Für mich war Bella eine gute Gelegenheit, um meine Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zu fördern. Dieser Moment des bewussten Empfindens, sich auf etwas einzulassen, das im Alltagsleben sonst untergeht, wird in der Achtsamkeitsforschung als Balsam für die Seele bezeichnet.

Wir hätten auch einfach unsere Wanderung mit der lapidaren Wahrnehmung beginnen können: Aha, da sind ein paar Schafe auf der Wiese, die man nicht weiter beachten muss. Dann wären mir dieses positive Erlebnis und dieses positive Gefühl entgangen. Aber wir Menschen brauchen positive Gefühle und Erlebnisse und sollten uns bewusst machen, dass es manchmal ganz einfach ist, sich diese angenehmen Emotionen zu beschaffen.

Auch das Bäume-Umarmen, das belächelt wird, gehört dazu. Wie fühlt sich die Rinde an? Und wenn ich mein Ohr an den Baum drücke, was höre ich dann? Und welche Gefühle und Ideen verbinde ich mit einem Baum, der sonst einfach nur so dagestanden hätte.

Und noch etwas: Schafe sind keine dummen Tiere. Sie können sich sogar Namen merken, habe ich im Internet gelesen. Dass sie auch sehr pfiffig sein können, weiß ich nachdem ich mit meinen Enkelsöhnen mit großem Vergnügen die Filme von Shaun das Schaf gesehen habe. Für verregnete Wochenend-Herbstnachmittage ist Shaun auch für Erwachsene etwas zum Aufheitern.

Quellen:
Fotos: Uschi Hohenbild
, Christoph Haus